Die Quelle des Ödlands

Auf vielfachen Wunsch sei hier eine kleine Schnupperprobe aus den Märchen und Sagen Paradons gepostet: Die Quelle des Ödlands. Viel Vergnügen!

                                               Die Quelle des Ödlands

Einst war das Land, das heute im Südosten des Kontinents liegt, bewohnt von einfachen Menschen. Sie lebten in Frieden mit der Natur und den Göttern und töteten Tiere nur, um ihren notwendigsten Bedarf zu stillen. Was in anderen Gegenden vor sich ging, kümmerte sie nicht, denn sie waren friedlich und strebten nicht nach Schätzen oder neuen Gebieten.

Doch eines Tages drangen die Horden eines fremden Fürsten in ihr Land ein, griffen Siedlungen an und holten sich die Menschen als Sklaven. Sie plünderten ihre Tempel und schändeten die Altäre der Götter.

Lange Zeit ertrugen die Menschen diese Ungerechtigkeit, doch irgendwann sammelten sich die Ältesten der Stämme und traten vor den Fürsten, um zu erfahren, womit sie diese Grausamkeit verdient hätten.

Da sprach der Fürst: «Das Land, in dem ich herrsche, war einst so blühend grün wie eures. Doch von einem Tag auf den anderen ist es verdorrt und vertrocknet. Es ist jetzt eine Wüste, ein Ödland. Die Quelle des Flusses, der es speiste, ist versiegt. Jetzt brauche ich ein neues Land und ein neues Volk, über das ich herrschen kann.»

Die Ältesten versuchten, den Fürsten mit Geschenken zu beschwichtigen und dazu zu bewegen, sich zurückzuziehen, doch dieser lehnte ab.

«Ich will nichts außer einem fruchtbaren Land. Wenn ich mein eigenes Land wieder zurückhaben könnte, grün und blühend, wie es war, dann würde ich dorthin zurückgehen. Da das nicht möglich ist, bleibe ich hier.»

Da kehrten die Ältesten niedergeschlagen in ihre Dörfer zurück und brachten ihren Stämmen die Nachricht.

«Wenn es einen Weg gäbe», sagte einer der Ältesten zu seinem Stamm, «dem Fürsten sein altes Land wiederzugeben, würde er gehen und uns wieder in Frieden lassen.»

«Aber wie sollen wir das machen?», fragten die Dörfler.

«Wenn man wüsste, warum der Fluss versiegt ist, könnte man das Wasser vielleicht zurückbringen.»

«Woher sollen wir wissen, warum der Fluss versiegt ist?», erwiderten die verzweifelten Menschen.

Der Älteste schüttelte traurig den Kopf. «Nur der Schatten weiß, wie es dazu kam und was man tun könnte.»

Da zerstreuten sich die Menschen, weinend und verzweifelt, denn sie wussten, dass nun dunkle Jahre auf sie zukämen. Nur ein Knabe blieb zurück und dachte über die Worte des Ältesten nach.

«Wenn», sagte er sich, «wenn der Schatten weiß, wie man den Fluss zurückbringen kann, dann muss ich ihn fragen.»

Er packte heimlich seine Sachen, denn er wusste, seine Eltern würden sich fürchterlich sorgen, wenn er ihnen sagte, was er vorhätte. Vom Schattengott hatte er schon einiges gehört und nichts davon war gut. Keiner, so erzählte man sich, der ihn aufsuchte, kam je zurück. Aber der Junge ließ sich nicht abschrecken; tage- und wochenlang wanderte er durch Wälder, Täler und über Berge, hin zum schwarzen Turm, wo der Schattengott lebte.

Als er vor dem Turm stand, packte ihn eine solche Angst, dass er beinahe wieder umgekehrt wäre. Doch er dachte an seinen Vater und seine Mutter und das stärkte ihn. So betrat er den Turm. Sogleich tauchten schattenhafte Wesen in den Gängen und Sälen auf, die über ihn lachten.

Der Knabe nahm all seinen Mut zusammen und sagte: «Ich will nichts Böses. Ich möchte nur eine Frage stellen.»

Die Schattenwesen lachten noch lauter. «Unser Gebieter beantwortet keine Fragen. Und wir auch nicht.»

Sie flüsterten ihm zu, wie sie ihn töten würden, wie sie ihm wehtun würden, doch der Junge tat, als könnte er sie nicht hören. Höher und höher kletterte er, bis er die Spitze des schwarzen Turms erreichte, wo der Schattengott selbst auf seinem finsteren Thron saß und ihn erwartete.

«Du hast viel Mut, hierher zu kommen», sagte der Gott. «Wer bist du und was willst du von mir?»

Der Junge nannte seinen Namen und erklärte, warum er gekommen war.

Da lachte der dunkle Gott auf. «Ich weiß, warum die Quelle versiegt ist und warum dort nun ein Ödland ist. Aber warum sollte ich es dir sagen?»

«Wir sind gottesfürchtige Leute», erklärte der Junge. «Wir haben die Drei immer geehrt und ihnen Opfer gebracht. Der neue Fürst aber höhnt und spottet über euch und erlaubt uns nicht, dass wir zu euch beten. Bitte hilf uns!»

Da schwieg der Gott lange. Schließlich sagte er: «Ich habe eure Gebete gehört und sie haben mich immer gestärkt. Der fremde Fürst jedoch gehört für seinen Frevel bestraft. Deshalb sage ich dir, was du wissen willst: Die Quelle des Ödlands ist versiegt, weil an ihrem Herzen ein Lindwurm nistet. Er sitzt auf der Quelle und besudelt sie, bis sein Unrat und all das Böse in ihm sie völlig verstopfen. Wenn man den Lindwurm tötet, wird auch die Quelle wieder fließen.»

Froh bedankte sich der Junge und bezeugte dem Gott den Respekt, der ihm gebührte. Dann eilte er nach Hause, um dem fremden Fürsten die Nachricht zu überbringen.

Dieser wollte zuerst nicht glauben, was der Junge ihm erzählte. Außerdem hatte er es sich in dem neuen Land schon sehr bequem eingerichtet, die Menschen mussten tun, was er von ihnen verlangte, und für ihn arbeiten. Daher hatte er keine Lust, nach Hause zurückzukehren, um einen Drachen zu erschlagen.

Also überlegte er sich eine List.

«Geh hin», befahl er dem Jungen, «und töte den Lindwurm! Wenn du das schaffst und das Wasser in meinem Reich wieder fließt, kehre ich nach Hause zurück und werde dich überdies noch reich belohnen!»

Die Eltern des Knaben versuchten, ihn davon abzuhalten, doch er sprach: «Wenn niemand den Drachen tötet, bleibt der Fürst für immer hier und wir alle werden seine Sklaven. Außerdem werde ich euch ein größeres Haus bauen können, wenn er mich belohnt. Unsere Hütte ist klein und ärmlich und wenn es regnet, ist sie nicht dicht. Ihr seid jetzt schon krank, und wenn der Fürst bleibt, werden wir alle verhungern. Deswegen gehe ich.»

Da weinte die Mutter des Jungen sehr. Sie gab ihm einen dünnen Wollmantel mit, den sie gemacht hatte, damit er nicht fror.

Und der Vater gab dem Jungen ein kleines, fast stumpfes Messer, das er benutzt hatte, um Wild die Haut abzuziehen. Jetzt, da die Männer des Fürsten alles Wild für sich selbst erlegten, brauchte er es nicht mehr.

So gerüstet machte sich der Junge auf den Weg.

Als er einmal müde wurde, lehnte er sich an einen Baum und schlief ein. Ihm träumte, dass ein kleines, weißhaariges Männlein an seinem Baum vorbeikam und etwas auf seinen Umhang streute. Als er erwachte, sah er, dass sein Umhang ganz weiß geworden war und so hell leuchtete, dass er die Augen schließen musste.

Er staunte über dieses Wunder und ging weiter.

Als er am nächsten Abend in einer kleinen Erdhöhle ruhte, träumte er, ein Falke käme zu ihm geflogen und wetzte seinen Schnabel an seinem Messer. Beim Aufwachen erkannte er mit großen Augen, dass das Messer nicht mehr stumpf war, sondern blitzte und funkelte und so scharf war, dass man ein Haar damit hätte zerteilen können.

Endlich, nach vielen Tagen, erreichte er die versiegte Quelle des Ödlands. Ein breiter, fauliger Durchgang erhob sich dort, wo einst das Wasser hervorgesprudelt war.

Voller Angst, aber entschlossen betrat der Junge die unterirdischen Gänge. Und nicht lange, da erreichte er eine Grotte, wo ein gewaltiges, graublaues Tier lag und schlief. Es glich einer Schlange mehr als einem Drachen und statt Flügeln hatte es schuppige Flossen.

Fast hätte der Junge bei diesem Anblick allen Mut verloren, doch er zwang sich, an seine Eltern zu denken und an jene, die ihn brauchten. Also trat er vor, um die Bestie zu erlegen. Doch da erwachte der Lindwurm und spie blauweißes Feuer, um den Jungen zu verbrennen. Da erglühte der Umhang, den er bei sich trug, und alle Flammen prallten von ihm ab. So geschützt, rannte der Junge auf die Bestie zu und stach ihr sein Messer mitten ins Herz. Nun sind Drachenpanzer für gewöhnlich härter als Stahl, aber das Messer blitzte und funkelte und drang durch die Haut des Tieres wie durch Butter.

Tödlich getroffen sank der Drache zu Boden und gab die Spalte in der Erde frei, in der sie das Wasser eingeschlossen hatte. Daraus ergoss sich sofort sprudelndes, kristallklares Wasser, wie es das vor der Ankunft des Drachens getan hatte.

Froh eilte der Knabe daraufhin in sein Heimatland, um dem Fürsten davon zu berichten. Dieser aber hatte ein tückisches, grausames Herz, und er dachte weder daran, sein neugewonnenes Reich zu verlassen, noch den Jungen für seine Tat zu belohnen.

Daher sagte er: „Woher weiß ich, dass du mich nicht belügst? Komm und zeig mir deine Heldentat! Ich will mit dir reiten und mit eigenen Augen sehen, was du vollbracht hast!“

So führte der Junge den Fürsten mit einer Handvoll Gefolgsleuten zur Quelle, die nun wieder sprudelte und das Land mit Wasser versorgte.

Zufrieden betrachtete der Fürst den klaren Fluss, denn nun glaubte er sich Herr zweier Länder.

Zu dem Jungen sagte er: „Du hast mir einen großen Dienst erwiesen! Lass uns als Zeichen unserer Abmachung gemeinsam von der Quelle trinken!“

So gingen sie zusammen zum Ufer und verabredeten, dass sie nacheinander aus demselben Becher trinken wollten, wie man das heute noch tut, um Bündnisse zu besiegeln. Der Fürst nahm sich zuerst von dem Wasser und lächelte in sich hinein; er hatte nämlich vor, den Jungen im Fluss zu ertränken, sobald dieser sich hinabbeugte, um den zweiten Kelch zu füllen.

Doch kaum hatte das Wasser der Quelle die Lippen des Fürsten berührt, schrie dieser auf in entsetzlicher Qual; das Gesicht schwoll ihm an, das Blut stockte ihm in den Venen, und bevor irgendjemand begriff, was geschehen war, lag er tot auf der Erde.

Es ist nämlich so, dass alles, was einmal vom Unrat eines Drachens befleckt worden ist, verdorben bleibt, und so war das Wasser der Quelle vergiftet.

Dem Jungen, dem aufging, dass der Schattengott ihn betrogen hatte, wurde angst und bange, denn die Männer des Fürsten waren fürchterlich wütend über den Tod ihres Herrn. Mit gesenkten Lanzen gingen sie auf den Jungen zu.

Da hob dieser seine Hände zum Himmel und rief in höchster Angst: „Oh ihr Götter des Himmels, der Erde und der Meere, bitte erbarmt euch und steht mir bei!“

Und ehe ein Schwert oder eine Lanze ihn berühren konnte, veränderten sich seine Glieder und an der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, erhob sich plötzlich ein mächtiger, blühender Baum, dessen Zweige bis fast zum Boden hingen und sich traurig im Wind bewegten. Da wichen die Männer des Fürsten entsetzt zurück und fielen auf die Knie, als sie die Allmacht der Götter vor Augen geführt bekamen.

Von diesem Tage an belästigte niemand mehr das Volk des jungen Mannes, aber der Baum, in den die Götter ihn verwandelt hatten, ist in diesen Gegenden bis zum heutigen Tage heilig und man nennt ihn Trauerweide, weil er den Gram darüber ausdrückt, dass den Jungen so ein Schicksal ereilte.

Die Bewohner des einstigen Ödlands aber schwören, dass man manchmal, in mondhellen Nächten, silberne Schatten über der Quelle aufsteigen sieht, und sie haben die Gestalt eines Knaben, der auf dem Rücken eines gewaltigen Drachen durch die Lüfte reitet.